In der heutigen Zeit wird die Dokumentation immer wichtiger. Man könnte meinen, wichtiger als die Pflege am Patienten selbst, denn ganz nach dem pauschalierten Motto:
„Was nicht dokumentiert, ist nicht gemacht!“
Diese Statistik zeigt die „Trefferquote“ von festgestellten Pflegefehlern in Verbindung mit der Anzahl der zu prüfenden Vorwürfe auf:
1. Fall:
Eine Altenpflegerin begann im Pflegeheim ihre Nachtschicht als Dauernachtwache. Sie war mit ihrer Kollegin für rund 100 Bewohner auf drei Etagen zuständig. Da sie sehr erfahren und routiniert war und alle Bewohner gut kannte, nahm sie die meisten Pflegeeintragungen schon vor Beginn der Tätigkeiten vor, um die Zeit einzusparen und um diese dann den Bewohnern „zugute“ kommen zu lassen.
In dieser Nacht wurde durch den Leiter der Einrichtung sowie die zuständige Pflegedienstleiterin eine Begehung des Heimes durchgeführt, da es in den vorrangegangenen Nächten, in denen die Altenpflegerin nicht eingesetzt war, zu Missständen gekommen sein sollte.
Daraufhin erfolgte ein Gespräch zwischen den Leitungen und der Pflegekraft:
Auf Vorhalt räumte die Altenpflegerin ohne jedwedes Zögern und Leugnen ein, die Voreintragungen vorgenommen zu haben.
Prompt erhielt sie die fristlose Kündigung.
- Landesarbeitsgericht Hamm, Urteil vom 07.07.2006 – 10 Sa 332/06 -
2. Fall:
Die examinierte Altenpflegerin war schon seit 20 Jahren im gleichen Pflegeheim angestellt. Nach einiger Zeit bemerkte die Pflegedienstleitung, dass die Altenpflegerin nicht mehr so um ihre Dokumentationspflichten bemüht war.
Insbesondere fehlten über mehrere Jahre immer wieder die erforderlichen Eintragungen bezüglich der Flüssigkeitszufuhr, Fixierungsprotokolle waren nicht ausgefüllt gewesen, teilweise ohne Uhrzeit; Eintragungen in Bewegungsplänen zur Lagerung fehlten.
Daraufhin erhielt die Altenpflegerin die ordentliche Kündigung, da sie bereits zwei Abmahnungen bzgl. der fehlenden Dokumentation angesammelt hatte.
- Landesarbeitsgericht München vom 18.10.2005 – 6 Sa 1185/04 -
3. Fall:
Die Altenpflegerin arbeitete seit 6 Jahren in allen Schichten im Senioren- und Therapiezentrum.
In einer Frühschicht hatte sie eine Palliativbewohnerin pflegerisch zu versorgen. In der Dokumentation zeichnete sie die mehrfachen Lagerungen ab, ohne diese jedoch vorzunehmen und teilte ihrer Kollegin dies auch so mit: sie habe einfach nur die Lagerungen abgezeichnet, die Bewohnerin aber nicht gelagert.
Es kam wie es kommen musste: am nächsten Tag zeigte die Bewohnerin mehrere Dekubiti im Sakralbereich, am Hinterkopf und an der Ferse.
In der Übergabe zur nächsten Schicht wurden diese Wunden weder kommuniziert noch dokumentiert.Daraufhin erhielt die Altenpflegerin die fristlose Kündigung und gleichzeitig ein Hausverbot.
- Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein vom 16.05.2007, Az.: 6 Sa 441/06 -
Was rechtfertigt eine fristloste Kündigung?
In allen Fällen erhielten die Pflegekräfte eine Kündigung.
Aus Sicht der Pflegeheime wurde argumentiert, dass die Pflegekräfte eine schwere Pflichtverletzung begangen hätten.Eine Pflichtverletzung stellt die Unterlassung von Pflegemaßnahmen dar, denn die Durchführung dieser Maßnahme bildet den Kern der vertraglich geschuldeten Leistungen einer Pflegekraft.
Aus dieser schweren Pflichtverletzung ergibt sich, dass z. B. Voreintragungen in die Pflegedokumentation ein Kardinalfehler sind, der ohne Abmahnung zur außerordentlichen Kündigung berechtige und Nachlässigkeit bei der gebotenen Dokumentation von Pflegeabläufen von solchem Gewicht sind, dass es ein Heimträger nicht verantworten kann, eine Pflegekraft weiter zu beschäftigen.
Fraglich ist, welche Gründe eine fristlose Kündigung rechtfertigen und welche Rolle die Dokumentationspflicht dabei spielt.
Denn es verstehe sich von selber, dass die Pflegemaßnahmen sich in der Dokumentation manifestieren müssen, denn die Dokumentationspflicht ergibt sich spätestens seit dem Grundsatzurteil des BGH vom 18.02.1986.[1]
Als Rechtsgrundlage hierfür ist zum einen § 3 Krankenpflegegesetz sowie das Vertragsrecht in Gestalt des Heimvertrages oder Behandlungsvertrages anzusehen. Die Dokumentation der Pflegeleistungen ist als eine dienstvertragliche Nebenleistung geschuldete Pflicht gegenüber dem Bewohner / Patient anzusehen, denn das Pflegeheim muss vertraglich gewährleisten, dass die Dokumentation des Fortganges der Grund- und Behandlungspflege ordnungsgemäß aufgezeichnet wird.[2]
Die Pflichtwidrigkeiten befanden sich somit im Leistungs- oder Verhaltensbereich. Sowohl bei der Durchführung von Lagerungen als auch bei den Eintragungen in die Pflegedokumentation handelt es sich um steuerbares Verhalten der Pflegekräfte; stellten die Richter fest.
Andererseits ist eine Abmahnung erforderlich, wenn es sich um ein steuerbares Verhalten handelt, das bisherige vertragswidrige Fehlverhalten noch keine klare Negativprognose zulässt und deswegen von der Möglichkeit zukünftigen vertragsgerechten Verhaltens ausgegangen werden kann.[3]
Regelmäßig wird nämlich erst nach einer Abmahnung die erforderliche Wahrscheinlichkeit dafür bestehen, dass sich der Arbeitnehmer auch in Zukunft nicht vertragstreu verhalten wird.
Bei den Pflegekräften handelt es sich sowohl bei der Durchführung von Lagerungen als auch der Eintragungen in die Pflegedokumentation um steuerbares Verhalten.
Somit war schlussendlich in keinem der oben genannten Fälle eine fristlose! Kündigung gerechtfertigt und eine Abmahnung war erforderlich.
Welchen Wert hat die Dokumentation wirklich?
Für die Pflegekräfte ist es sehr schwer die Pflegedokumentation als sinnvolles Instrument für den Pflegeprozess und die Profession der Pflege zu verstehen.
Die Dokumentation wird als große Bürde empfunden, denn da neben der pflegerischen Tätigkeit am Bett die Pflegeleistungen auch noch zu dokumentieren sind, fällt es schwer, dann auch noch die richtigen Worte zu finden; oft wird die Formulierung selbst als Problem empfunden. [4]
Es wird ebenso empfunden, dass immer mehr Schreibarbeit dazu kommt und dass die Dokumentation die Zeit für die direkte Pflege am Patienten reduziert.
Wenn die ersten Hürden abgelegt sind und dass Verständnis durch Schulungen für den Sinn und Zweck der Dokumentation gefördert wird, ist die Erleichterung durch die Anwendung eines Pflegeprozesses und die dadurch einkehrende Routine eine große Erleichterung.
Nur so kann die Pflege gezielt geplant und durchgeführt werden. Durch die Berücksichtigung der Kompetenz und der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse gewinnt die Pflegedokumentation an Qualität und Transparenz.[5]
Die Pflegeprozessdokumentation soll nach M. Krohwinkel als integraler Bestandteil ganzheitlicher fördernder Prozesspflege verstanden werden.
So könne eine gut geführte Dokumentation die Wirksamkeit und die Kontinuität der Pflege erhöhen, als Mittel zur interdisziplinären Zusammenarbeit und als Bewertungsbasis für die erteilte Pflege dienen, sowie zur Entwicklung neuer Erkenntnisse im Fachgebiet und zur Überprüfung der gegenwärtigen Pflegeleistung herangezogen werden.[6]
Darüber hinaus biete die Dokumentation, so Mybes, die Chance der Verringerung von Beliebigkeit und Willkür und damit auch von Fehlern und Beschwerden.
- Dies dürfte der Grund für die hohe festgestellte Fehlerrate in der Jahresstatistik 2018 – Behandlungsfehlerbegutachtung der MDK – Gemeinschaft sein:
die Pflege am Patienten erfolgt professionell, aber die Pflege wird oft nicht ausreichend dokumentiert! -
Durch eine kontinuierliche Dokumentation des Pflegeprozesses wird Erfolg erlebbar, persönliche und fachliche Sicherheit sowie Transparenz durch das kontinuierliche, übersichtliche und konkrete Aufzeigen der Wirkung von Maßnahmen wird möglich. Daher sei „eine gute Pflegedokumentation kein Selbstzweck, sondern ein Spiegel von Pflegeverständnis und Qualität in der Pflege“.[7]
Andererseits wird heute Krankenpflege nicht auf Dokumentation der Dienstleistungen reduziert werden können, denn die Kunst der Pflege besteht darin, eine Beziehung aufzubauen und die wiederkehrenden Werte und deren Berücksichtigung im Kontext pflegeprofessioneller Entscheidungen wie z. B. Menschenwürde, die Autonomie, die Fürsorge sowie Teilhabe und Verantwortung zu gestalten. [8]
Für Florence Nightingale war Pflege eine Kunst, ein eigenständiger und zentraler Bereich im Gesundheitswesen. Es ging Florence Nightingale um Hingabe, um Achtsamkeit und Menschlichkeit.
„Krankenpflege ist keine Ferienarbeit. Sie ist eine Kunst und fordert, wenn sie Kunst werden soll, eine ebenso große Hingabe, eine ebenso große Vorbereitung, wie das Werk eines Malers oder Bildhauers. Denn was bedeutet die Arbeit an toter Leinwand oder kaltem Marmor im Vergleich zu der am lebendigen Körper, dem Tempel für den Geist Gottes?"
Pflege als zwischenmenschliches Geschehen im Kontext von Interaktion und Begegnung wie auch die situativen Asymmetrien und Diversitäten haben in vielfältiger Form das Potenzial für ethische Dilemmata und moralische Irritationen.
Die professionelle Pflege möchte den theoretischen, evidenzbasierten Anforderungen ebenso gerecht werden, wie objektiv erfassbaren Pflegebedarfen und individuellen Bedürfnissen.
Somit befindet sich die Pflege immer in einem ethischen Spagat zwischen Tun und Unterlassen.
So kann zum Beispiel eine bestimmte Pflegeintervention – wie die regelmäßige Lagerung – Hautläsionen verhindern, die seitens des aufgeklärten und einwilligungsfähigen pflegebedürftigen Menschen jedoch manchmal abgelehnt wird; aus dem Bedürfnis nach situativer Privatheit und Ruhe heraus.
Das sich aus der bestehenden Diskrepanz zwischen objektivem Pflegebedarf (Hautläsionen verhindern) und individuellem Bedürfnis (nach Privatheit und Ruhe) und der bestehenden Wertepluralität ergebende Dilemma (z. B. zwischen Fürsorge und Privatheit oder zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung) fordert eine systematisierte ethische Reflexion.[9]
Die geforderte Entscheidung bedarf – ergänzend zu der pflegefachlichen Analyse und Bewertung (Gefahr von Hautläsionen) – der pflegeethisch begründeten Positionierungen in Bezug auf das Handeln beziehungsweise in diesem Beispiel in Bezug auf das Unterlassen.
In der Gesamtbetrachtung findet sich die professionelle Pflege und damit die Kunst der Pflege in der heutigen Zeit darin wieder, dass sie den Spagat zwischen Beziehungspflege, ethischen und moralischen Entscheidungen und der Dokumentationspflicht ausgewogen auf dem Drahtseilakt zum Wohl der Gesellschaft täglich neu ausbalanciert.
Wie werden Sie heute Ihre Pflegetätigkeiten dokumentieren?
Ihre
Eva B. Mertens
Literaturverzeichnis:
[1] In: R. Roßbruch, Handbuch des Pflegerechts, Bd. 3, C.46,5. [2] Robert Roßbruch . Die Pflegedokumentation aus haftungsrechtlicher Sicht, Pflegerecht 6/98, Seite 126 ff. [3] BAG 27.04.2006 – 2 AZR 415/05 – NZA 2006, 1033. [4] (vgl. Keitel 2007, S 14) [5] (vgl. Keitel 2007, S. 15 f.) [6] Monika Krohwinkel: Der Pflegeprozess am Beispiel von Apoplexiekranken, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Bd. 16. Nomos, Baden-Baden 1993. [7] Ursula Mybes: Optimierungspotentiale der Pflegedokumentation, Pflege Aktuell 2/2005, S 86-90.S. 87. [8] Vgl. hierzu zum Beispiel praxisorientiert: Riedel, A., Linde, A.-C. (Hrsg.), Ethische Reflexion in der Pflege. Konzepte – Werte – Phänomene. 2017, Heidelberg: Springer (im Druck), wie auch die Ausführungen in: Riedel, A., Ethische Herausforderungen in der Pflege. In: Marckmann, G. (Hrsg.), Praxisbuch Ethik in der Medizin. 2015, Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, S. 89-102. [9] Ausführungen zur "Perspektivischen Differenz" und den damit potenziell verbundenen Dissonanzen in der beruflichen Alltagspraxis finden sich bei: Sauer, T., Zur Perspektivität der Wahrnehmung von Pflegenden und Ärzten bei ethischen Fragestellungen. Empirische Daten und theoretische Überlegungen. In: Ethik in der Medizin, 2015, 27: S. 123-140.
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