Die SIS – Herzstück des Pflegeprozesses: Fachwissen, Standardisierung und MDK-Sicherheit im tiefen Detail
- Schwester Eva - Pflegeexpertin
- vor 1 Tag
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Die Pflegedokumentation hat in den letzten Jahren massiv an Bedeutung gewonnen, getreu dem Motto: „Was nicht dokumentiert, ist nicht gemacht“. Vor diesem Hintergrund hat die Strukturierte Informationssammlung (SIS) eine zentrale Rolle eingenommen. Die SIS ist kein beliebiges Formular, sondern ein wissenschaftsbasiertes Konzept, das den systematischen Ansatz zur Pflegeanamnese und den Einstieg in den vierphasigen Pflegeprozess bildet.
Eine sorgfältige Durchführung der SIS ist unerlässlich, um einen umfassenden Überblick über den Pflegebedarf und die individuellen Fähigkeiten des Patienten zu erhalten. Darüber hinaus dient die Dokumentation zunehmend als rechtlicher Maßstab und ist entscheidend vor dem Hintergrund haftungsrechtlicher Ansprüche und den Anforderungen externer Prüfungssituationen wie dem MDK.
I. Das pflegewissenschaftliche Fundament und der personenzentrierte Ansatz
Pflegerisches Handeln ist komplex und wird von strukturierten und unstrukturierten Wissensquellen geleitet. Die SIS integriert diese wissenschaftlichen und praktischen Säulen, um die Konzentration auf den Patienten zu stärken.
1. Die vier Wissensquellen des pflegerischen Handelns
Pflegerisches Handeln basiert auf vier entscheidenden Bereichen, die die Grundlage für die SIS-Erhebung bilden:
Persönliches Wissen und Erfahrung der Pflegefachkraft.
Empirie: Der wissenschaftlich abgesicherte Bereich, beispielsweise Expertenstandards.
Ethik.
Intuition oder wie Florence Nightingale es nannte: Die Kunst der Pflege.
2. Pflegetheorien in der Praxis (Exkurs)
Die Gestaltung der SIS, insbesondere Feld B, ist stark von pflegetheoretischen Ansätzen geprägt:
Bedürfnistheorien (z. B. nach Orem): Fokussieren auf die systematische Erfassung von Selbstpflegedefiziten und Ressourcen zur Ableitung pflegerischer Diagnosen und Maßnahmenplanung.
Humanistische Theorien (z. B. nach Leininger): Diese sind im personenzentrierten Ansatz besonders relevant, da sie die Fragen stellen, wie der bisherige Alltag des Patienten aussah und was aufgrund kultureller Herkunftvon der Pflege erwartet wird. Dies betont die Bedeutung der biografischen Aspekte.
Interaktionstheorien: Hier wird fokussiert, wie Angehörige in die Pflege einbezogen werden können und in welcher Phase des Krankheitserregers sich der Patient befindet.
Die Komplexität pflegerischen Handelns erfordert oft einen Mix aus verschiedenen Theorien, der sicherstellt, dass die individuellen Bedürfnisse und Vorlieben des Patienten berücksichtigt werden.
II. Die Strukturierte Informationssammlung (SIS) im Detail
Die SIS als Element 1 des Strukturmodells ist die systematische Basis der Dokumentation. Sie muss immer komplett ausgefüllt werden; kein Feld darf ausgelassen oder übersprungen werden. Die Erfassung muss präzise und vollständig durchgeführt werden, um eine bedarfsgerechte Versorgung sicherzustellen.
1. Feld A: Allgemeine Angaben und Verständigung
Dieses Feld enthält die allgemeinen Angaben zur Person (Name, Geburtsdatum). Es beinhaltet die Leiste zur Unterschrift der Pflegefachkraft, die für die SIS verantwortlich zeichnet, sowie das Datum der Erhebung. Eine optionale Leiste für die Unterschrift der pflegebedürftigen Person, Angehörigen oder Betreuer dient als Ausdruck der gemeinsamen Verständigung zu wesentlichen Aspekten der Versorgung und Selbstbestimmung.
2. Feld B: Die narrative Patientenperspektive
Feld B verkörpert den personenzentrierten Ansatz. Es erfasst ausschließlich die Perspektive und die Sichtweise der pflegebedürftigen Person.
Inhalt: Angaben zum Unterstützungsbedarf und Äußerungen zum Selbsterhalt aus Sicht des Patienten. Methode:Die Dokumentation nutzt eine narrative Erzählweise. Das Zitieren des Originaltons der pflegebedürftigen Person ist zentral, da es die Bedeutung von Individualität und Wertschätzung hervorhebt. Diese subjektive Perspektive muss die Pflegefachkraft konsequent im Rahmen des weiteren Gesprächsverlaufs und in den folgenden Themenfeldern mit berücksichtigen.
3. Themenfelder C1: Die sechs Bereiche der fachlichen Einschätzung
Nach der Erfassung der Patientenperspektive folgt die fachliche Einschätzung der Pflegefachkraft, die im Dialog mit dem Patienten erfolgt. Diese Einschätzung zum Hilfebedarf und zum Selbstständigkeitserhalt erfolgt in Anlehnung an die Module und Kriterien des Begutachtungsinstrumentes (BI), wobei die SIS und das BI unterschiedlichen Zwecken dienen.
Die sechs Themenfelder betrachten die Bereiche der körperlichen Verfassung, Mobilität, kognitiven und kommunikativen Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Verfassung sowie die sozialen Ressourcen:
Themenfeld 1: Kognitive und kommunikative Fähigkeiten.
Themenfeld 2: Mobilität und Beweglichkeit.
Themenfeld 3: Krankheitsbezogene Anforderungen und Belastungen.
Themenfeld 4: Selbstversorgung.
Themenfeld 5: Leben in sozialen Beziehungen.
Themenfeld 6: Wohnen/Häuslichkeit.
4. C2: Erste fachliche Einschätzung (Risikomatrix)
Als letzter Teil der SIS erfolgt die erste fachliche Einschätzung der für die Pflege und Betreuung relevanten intensiven Risiken und Phänomene. Hier werden Risiken wie Dekubitus, Sturz, Inkontinenz, Schmerz und Ernährung (sowie Sonstiges) bewertet.
Achtung MDK: Fehler in der Risikomatrix sind eine häufige Fehlerquelle und werden in der Pflegefehlerbegutachtung immer wieder festgestellt.
III. Deep Dive: Themenfeld 4 (Selbstversorgung) und der Katz-Index
Das Ausfüllen von Themenfeld 4 (Selbstständigkeit/Unabhängigkeit) ist zentral und trägt dazu bei, die Selbstversorgungsfähigkeit von Patienten zu bewerten und die notwendige Unterstützung zu identifizieren. Es erfordert jedoch aufgrund seiner Komplexität ein hohes Maß an Fachwissen und Erfahrung.
1. Gründe für Schwierigkeiten bei Themenfeld 4
Pflegefachkräfte begegnen mehreren Herausforderungen beim Ausfüllen:
Unsicherheit über Kriterien: Es besteht oft Unsicherheit darüber, welche Kriterien bei der Bewertung zu berücksichtigen sind.
Mangelnde Standardisierung: Trotz des allgemeinen Rahmens der SIS können Interpretation und Anwendung der Kriterien je nach Pflegefachkraft variieren. Dies führt zu unterschiedlichen Bewertungen und Unklarheiten in der Pflegeplanung.
Zeitdruck: Die Bewertung erfordert eine umfassende Beobachtung, für die in einer hektischen Arbeitsumgebung oft nur schwer ausreichend Zeit gefunden werden kann.
Kommunikationsprobleme: Unterschiedliche Ansichten im Pflegeteam können zu Konflikten führen und die Pflegeplanung erschweren.
2. Anleitung: Die vier Schritte zur effektiven Beurteilung
Um diese Herausforderungen zu meistern und Themenfeld 4 effektiv auszufüllen, ist ein strukturiertes Vorgehen notwendig:
Informationen sammeln (Schritt 1): Sammeln Sie alle relevanten Informationen durch Gespräche mit dem Patienten, der Familie oder Betreuern, durch Beobachtung oder durch Überprüfung von Patientenakten. Holen Sie Feedback von Patienten und Angehörigen ein.
Beurteilung der Selbstversorgung (Schritt 2): Beurteilen Sie die Fähigkeit des Patienten, sich selbstständig zu pflegen, indem Sie ihn bei alltäglichen Aktivitäten wie Körperpflege, Anziehen und Nahrungsaufnahmebeobachten. Prüfen Sie, ob Hilfsmittel (z. B. Greifhilfen) verwendet werden.
Bewertung der Fähigkeiten (Schritt 3): Bewerten Sie, ob der Patient in der Lage ist, die Körperpflege selbstständig durchzuführen oder ob Schwierigkeiten, beispielsweise aufgrund von körperlichen Einschränkungen, kognitiven Beeinträchtigungen, Schmerzen oder seiner körperlichen Verfassung, bestehen.
Bewertung der Unterstützung (Schritt 4): Bewerten Sie die Art der benötigten Unterstützung. Berücksichtigen Sie auch den Kontext, in dem der Patient lebt (z.B. Pflegeeinrichtung vs. zu Hause).
3. Standardisierung durch den Katz-Index
Um die Bewertung objektiver zu gestalten und sie mit anderen Fachkräften vergleichen zu können, empfiehlt sich die Nutzung standardisierter Skalen wie dem Katz-Index.
Definition: Der Katz-Index, entwickelt in den 1950er Jahren von Morris Katz, ist ein standardisiertes Instrument zur Beurteilung der Selbstständigkeit bei alltäglichen Aktivitäten.
Umfang: Er umfasst sechs grundlegende Aktivitäten des täglichen Lebens (ADLs):
Waschen/Körperpflege
Anziehen
Toilettenbenutzung
Transfers (Bewegung von einem Ort zum anderen)
Kontinenz (Kontrolle von Blase und Darm)
Ernährung (Essen und Trinken)
Bewertung: Die Bewertung erfolgt mit zwei Antwortmöglichkeiten: "unabhängig" oder "abhängig".
Der Katz-Index ist ein einfaches und schnell anwendbares Instrument, das sich hauptsächlich auf körperliche Fähigkeiten konzentriert. Im Gegensatz dazu sind die AEDLs nach Krohwinkel umfassender und berücksichtigen elf Aktivitäten, darunter auch Aspekte wie soziale Interaktion und psychische Stabilität.
4. Das Praxisbeispiel: Frau Müller
Frau Müller, eine 75-jährige Bewohnerin eines Pflegeheims, dient als typisches Beispiel. Da sie an Arthritis leidet und ihre Beweglichkeit eingeschränkt ist, ist sie auf Hilfe angewiesen.
Die SIS-Dokumentation in Themenfeld 4 muss präzise festhalten: "Frau Müller benötigt Unterstützung bei der Körperpflege, insbesondere beim Waschen, Anziehen und beim Zähneputzen. Sie kann ihre Gliedmaßen nicht frei bewegen und hat Schmerzen in den Händen und Knien. Aufgrund ihrer körperlichen Einschränkungen kann Frau Müller ihre Körperpflege nicht selbstständig durchführen. Sie benötigt täglich Unterstützung bei der Körperpflegedurch das Pflegepersonal".
Diese detaillierte Bewertung dient als Grundlage für die Planung der täglichen Unterstützung und hilft, Änderungen in Frau Müllers Gesundheitszustand frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu reagieren.
IV. Kontinuität und der Übergang in den Pflegeprozess
Das Ausfüllen von Themenfeld 4 erfordert eine kontinuierliche und dynamische Bewertung, da sich die Selbstversorgungsfähigkeit eines Patienten im Laufe der Zeit ändern kann.
Die SIS (Element 1) bildet die Basis für die qualitativ hochwertige Pflegeplanung und leitet direkt zu den verbleibenden Elementen des Strukturmodells über:
Element 2: Individueller Maßnahmenplan: Wird auf Grundlage der SIS-Erkenntnisse erstellt.
Element 3: Das Berichtsblatt: Fokussiert nunmehr nur noch auf drei Dinge: Abweichungen vom Maßnahmenplan mit Begründungen, aktuelle Ereignisse und Informationen durch weitere Beteiligte.
Element 4: Die Evaluation: Hier müssen individuelle Evaluationsdaten bzw. Zeiträume festgelegt werden, basierend auf den Erkenntnissen aus SIS und Maßnahmenplan.
V. Fazit: Erfolgreiche und MDK-sichere SIS
Die SIS ermöglicht durch die Erfassung der individuellen Ressourcen und Defizite einen systematischen Ansatz zur Pflegeanamnese und -planung.
Um die Herausforderungen in der Praxis zu meistern, sind klare Richtlinien und Standards, eine angemessene Schulung und Fortbildung der Pflegefachkräfte sowie eine offene und effektive Kommunikation im Pflegeteam entscheidend. Nur durch eine präzise und vollständige Dokumentation kann eine bedarfsgerechte Versorgung und Pflege auf einem hohen Niveau gehalten werden.
Die SIS stellt somit sicher, dass die fachliche Kompetenz und die Konzentration auf die Patienten und Bewohnergestärkt wird, was unerlässlich für eine MDK-sichere und qualitativ hochwertige Pflege ist.
Bleibt gesund und munter! Eure Schwester Eva, Pflegeexpertin