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Wenn die Unterschrift fehlt: Was ein 490.000-Euro-Urteil für die Pflegedokumentation bedeutet


Ein Stempel kostet fast eine halbe Million Euro – und zeigt, warum persönliche Verantwortung nicht delegierbar ist


Das Bundessozialgericht hat am 27. August 2025 (Az. B 6 KA 9/24 R) ein Urteil gesprochen, das auf den ersten Blick wie ein klassischer Verwaltungsstreit wirkt – tatsächlich aber eine grundlegende Frage der Berufsverantwortung im Gesundheitswesen verhandelt: Wann ist eine Leistung persönlich erbracht? Und wann wird aus einer formalen Pflicht eine Frage der Haftung?


Der Fall: Routine wird zum Regress


Ein hessischer Kardiologe hatte über mehrere Jahre hinweg Sprechstundenbedarfsverordnungen nicht persönlich unterschrieben, sondern lediglich mit einem Unterschriftenstempel versehen. Er verordnete damit regelmäßig Medikamente, Verbandmaterial und medizinische Hilfsmittel für den Praxisbedarf – alles formal korrekt ausgefüllt, termingerecht eingereicht, inhaltlich nicht zu beanstanden. Nur eines fehlte: die eigene Unterschrift.


Das Ergebnis: Ein Regress in Höhe von 490.000 Euro.


Nicht, weil die Verordnungen inhaltlich falsch gewesen wären. Nicht, weil Patienten zu Schaden gekommen wären. Sondern weil die persönliche Unterschrift als konstitutives Element der Verantwortungsübernahme fehlt.


Die rechtliche Begründung: Unterschrift ist keine Formalie


Die Richterinnen und Richter des BSG argumentierten messerscharf: Die Unterschrift – heute in der Regel ersetzt durch eine qualifizierte elektronische Signatur – sei nicht bloß ein formaler Akt, sondern integraler Bestandteil der Verantwortungsübernahme.


Nur durch sie werde gewährleistet, dass die Ausstellung der Verordnung persönlich geprüft und verantwortet wurde. Das Gericht stützte sich dabei auf:


  • § 48 Abs. 1 Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä), der die Schadensfeststellung bei fehlerhaften oder unrichtigen Verordnungen regelt

  • § 82 Abs. 1 Satz 2 SGB V in Verbindung mit § 72 Abs. 2 SGB V, die die persönliche Leistungserbringung als Kernelement vertragsärztlicher Tätigkeit festschreiben


Damit bestätigte das BSG, dass Verstöße gegen die Pflicht zur persönlichen Unterzeichnung als „sonstiger Schaden"im Sinne des § 48 BMV-Ä gelten können – auch wenn kein direkter medizinischer Schaden entstanden ist.


Die Botschaft des Gerichts ist eindeutig: Ein Arzt, der seine Unterschrift delegiert oder durch einen Stempel ersetzt, setzt das Vertrauen in die Richtigkeit und Verantwortlichkeit der Verordnung außer Kraft. Und das ist schadensbegründend.


Form ist Verantwortung – nicht Bürokratie


Dieses Urteil betrifft zwar unmittelbar das Vertragsarztrecht, aber seine Grundlogik reicht weit über die ärztliche Tätigkeit hinaus. Es berührt das Fundament professionellen Handelns im Gesundheitswesen – und damit auch die Pflegepraxis.


Was bedeutet „persönliche Leistungserbringung" eigentlich?


Persönliche Leistungserbringung bedeutet nicht nur, dass ich körperlich anwesend bin, wenn etwas geschieht. Sie bedeutet:


  • Ich habe persönlich geprüft, was zu tun ist

  • Ich habe fachlich entschieden, dass diese Maßnahme indiziert ist

  • Ich übernehme die Verantwortung für das, was geschieht

  • Ich mache diese Verantwortung nachvollziehbar und zuordenbar


Die Unterschrift – ob handschriftlich oder digital – ist der sichtbare Ausdruck dieser Verantwortungskette. Sie ist kein bürokratischer Selbstzweck, sondern die rechtliche Manifestation von Fachverantwortung.


Übertragen auf die Pflege heißt das: Die Dokumentation ist nicht Verwaltungsarbeit, sondern das rechtliche und ethische Rückgrat professionellen Handelns.


Die Parallele zur Pflegepraxis: Dokumentation als Verantwortungsnachweis


Warum Pflegedokumentation mehr ist als „Papierkram"


In der Pflege wird oft über den Dokumentationsaufwand geklagt – zu Recht, wenn Systeme schlecht gestaltet sind oder Doppelerfassungen erzwungen werden. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Funktion der Pflegedokumentation:


Sie ist der Nachweis, dass professionelle Verantwortung wahrgenommen wurde.


Eine Pflegedokumentation erfüllt mehrere essentielle Funktionen:

  1. Rechtssicherheit: Sie beweist im Haftungsfall, dass eine Maßnahme tatsächlich erfolgt ist und fachgerecht durchgeführt wurde

  2. Kommunikation: Sie ermöglicht die Übergabe zwischen Schichten und Berufsgruppen

  3. Qualitätssicherung: Sie macht Pflegehandeln überprüfbar und evaluierbar

  4. Vertrauensschutz: Sie schafft Transparenz gegenüber Patienten, Angehörigen und Kostenträgern

  5. Haftungsabwehr: Sie schützt Pflegekräfte vor ungerechtfertigten Vorwürfen


Was passiert, wenn die Form verloren geht?


Wie beim Arzt, der den Stempel nutzt, gilt auch in der Pflege: Wenn die Form verloren geht, verliert das System Orientierung.


Konkret bedeutet das:


Unvollständige Dokumentation


Eine Pflegekraft notiert nur „Mobilisation durchgeführt", ohne Angabe von Umfang, Hilfsmitteleinsatz, Reaktion des Bewohners oder möglichen Besonderheiten. Im Schadensfall – etwa einem Sturz drei Tage später – kann nicht nachvollzogen werden, wie der Mobilitätsstatus tatsächlich war und ob die Maßnahmen angemessen waren.


Rechtliche Folge: Es gilt der Grundsatz „Was nicht dokumentiert ist, ist nicht geschehen." Die Beweislast kehrt sich um.


Verspätete Dokumentation


Eine Wundbehandlung wird durchgeführt, aber erst am Ende der Spätschicht – also 6-8 Stunden später – dokumentiert. Die Frühschicht am nächsten Morgen hat keine aktuelle Information über den Wundzustand und handelt möglicherweise auf Basis veralteter Informationen.

Folge: Behandlungsfehler durch Informationsdefizit, Kontinuitätsbruch in der Versorgung.


Fehlende Zuordnung


In einem elektronischen System wird dokumentiert, dass Medikamente ausgegeben wurden – aber es ist nicht ersichtlich, wer dies getan hat, weil das Handzeichen oder die digitale Signatur fehlt.

Folge: Im Schadensfall kann die Verantwortung nicht zugeordnet werden. Das schützt weder die Einrichtung noch die einzelne Pflegekraft.


Unleserliche Handschrift


Eine handschriftliche Eintragung zur Sturzprävention ist so unleserlich, dass sie nicht verwertbar ist.

Folge: Rechtlich gilt sie als nicht erfolgt. Die Pflegekraft hat sich nicht geschützt, sondern sich zusätzlich angreifbar gemacht.


Die rechtliche Dimension in der Pflege


Dokumentationspflicht ist keine Kann-Bestimmung


Die Pflicht zur Dokumentation in der Pflege ergibt sich aus mehreren Rechtsquellen:


§ 5 SGB XI (Pflegeversicherung) Die Pflegeeinrichtungen müssen die Qualität der Leistungserbringung sicherstellen – und Dokumentation ist ein zentrales Qualitätskriterium.

§ 113 SGB XI (Maßstäbe und Grundsätze) Die Qualitätsvereinbarungen enthalten konkrete Vorgaben zur Dokumentation, die einklagbar sind.

§ 630f BGB (Dokumentationspflicht im Behandlungsvertrag) Der Behandelnde ist verpflichtet, in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit der Behandlung eine Patientenakte zu führen. Diese Pflicht gilt nicht nur für Ärzte, sondern auch für Pflegende im Rahmen ihrer Heilbehandlungspflege.

Berufsrechtliche Vorgaben Die Pflege-Berufsgesetze und die Pflegekammer-Regelungen in einigen Bundesländern betonen die Dokumentationspflicht als Teil der Berufspflicht.


Die Beweislastumkehr: Warum „nicht dokumentiert" gefährlich ist


Im deutschen Haftungsrecht gilt ein besonders wichtiger Grundsatz:


„Was nicht dokumentiert ist, gilt als nicht geschehen."

Das bedeutet: Wenn eine Pflegekraft behauptet, sie habe eine Maßnahme durchgeführt, diese aber nicht dokumentiert ist, muss sie im Streitfall beweisen, dass die Maßnahme dennoch erfolgt ist. Dieser Beweis ist praktisch unmöglich zu führen.

Umgekehrt gilt: Eine saubere, zeitnahe, vollständige Dokumentation ist der beste Haftungsschutz, den eine Pflegekraft haben kann.


Konkrete Haftungsszenarien aus der Pflegepraxis


Szenario 1: Dekubitus-Entstehung Ein Bewohner entwickelt einen Dekubitus Grad 3. Die Angehörigen werfen der Einrichtung vor, keine angemessene Prophylaxe durchgeführt zu haben. Die Dokumentation zeigt jedoch:


  • Regelmäßige Risikoeinschätzung nach Braden-Skala

  • Konkrete Prophylaxemaßnahmen (Lagerungsplan, Hilfsmittel, Hautpflege)

  • Zeitnahe Eintragungen mit Handzeichen

  • Dokumentierte Abweichungen, wenn Maßnahmen vom Bewohner abgelehnt wurden


Ergebnis: Die Einrichtung kann nachweisen, dass sie ihrer Sorgfaltspflicht nachgekommen ist. Die Klage wird abgewiesen.


Szenario 2: Medikamentengabe-Fehler Eine Pflegekraft gibt einem Bewohner versehentlich ein Medikament doppelt, weil die Frühschicht die Gabe nicht dokumentiert hat. Der Bewohner erleidet eine Überdosierung mit Kreislaufproblemen.


Ergebnis: Sowohl die Pflegekraft der Frühschicht (wegen unterlassener Dokumentation) als auch die Pflegekraft der Spätschicht (wegen mangelnder Prüfung) können haftbar gemacht werden. Der Versicherungsschutz kann eingeschränkt sein, wenn grobe Fahrlässigkeit vorliegt.


Szenario 3: Sturzfolgen Ein mobilitätseingeschränkter Bewohner stürzt nachts auf dem Weg zur Toilette. Die Angehörigen machen geltend, die Sturzprävention sei unzureichend gewesen. Die Dokumentation zeigt jedoch:


  • Aktuelle Sturzrisikoeinschätzung

  • Konkrete Präventionsmaßnahmen (Gehhilfe, Nachtlicht, Klingel in Reichweite)

  • Dokumentierte Schulung des Bewohners

  • Feststellung, dass der Bewohner wiederholt die Hilfsmittel abgelehnt hat

  • Dokumentierte Aufklärung über Risiken


Ergebnis: Die Einrichtung hat ihrer Dokumentationspflicht genügt und kann nachweisen, dass sie angemessen gehandelt hat.


Was heißt das konkret: Anforderungen an eine rechtssichere Pflegedokumentation


Die sechs Qualitätskriterien


Eine rechtssichere Pflegedokumentation muss folgende Kriterien erfüllen:


1. Vollständigkeit


Alle durchgeführten Maßnahmen, Beobachtungen und Abweichungen müssen dokumentiert werden. Das umfasst:


  • Grundpflege und Behandlungspflege

  • Besondere Vorkommnisse

  • Kommunikation mit Ärzten, Therapeuten, Angehörigen

  • Abgelehnte Maßnahmen

  • Veränderungen im Zustand des Patienten


2. Zeitnähe


Dokumentation muss unmittelbar nach der Maßnahme oder spätestens am Ende der Schicht erfolgen. Bei besonderen Vorkommnissen (Stürze, akute Verschlechterungen) ist sofortige Dokumentation erforderlich.


Faustregel: Was heute passiert, muss heute dokumentiert werden.


3. Lesbarkeit


Bei handschriftlicher Dokumentation muss die Schrift für Dritte lesbar sein. Bei elektronischer Dokumentation müssen Einträge eindeutig zugeordnet werden können.


4. Eindeutige Zuordnung


Jede Eintragung muss eindeutig einer Person zuordenbar sein:


  • Handschriftlich: Handzeichen oder Unterschrift

  • Elektronisch: Digitale Signatur mit Benutzername und Zeitstempel


Wichtig: Passwörter dürfen niemals weitergegeben werden. Eine Dokumentation unter fremdem Namen ist unzulässig und kann zur Kündigung führen.


5. Nachvollziehbarkeit


Dokumentation muss so erfolgen, dass eine fachfremde Person (z.B. ein Richter) nachvollziehen kann:


  • Was wurde getan?

  • Wann wurde es getan?

  • Warum wurde es getan?

  • Wer hat es getan?

  • Wie hat der Patient/Bewohner reagiert?


6. Unveränderbarkeit


Einträge dürfen nicht gelöscht oder unkenntlich gemacht werden. Korrekturen müssen nachvollziehbar sein:


  • Handschriftlich: Durchstreichen, nicht übermalen oder radieren

  • Elektronisch: Korrekturmodus mit Zeitstempel und Kennung


Besondere Herausforderungen in der elektronischen Pflegedokumentation


Digitalisierung bedeutet nicht weniger Verantwortung


Die zunehmende Digitalisierung der Pflegedokumentation bringt neue Herausforderungen – und verstärkt die Parallele zum BSG-Urteil:


Das Problem der Sammel-Logins In manchen Einrichtungen wird aus Zeitgründ noch ein gemeinsamer Zugang für mehrere Pflegekräfte genutzt. Das entspricht exakt dem Stempel-Problem aus dem Gerichtsurteil: Die persönliche Zuordnung geht verloren.

Rechtliche Bewertung: Eine solche Praxis ist unzulässig. Im Schadensfall kann nicht nachgewiesen werden, wer tatsächlich dokumentiert hat. Die Beweislast liegt dann bei der Einrichtung bzw. dem Team.

Checkbox-Dokumentation ohne Individualisierung Standardisierte Pflegesoftware verleitet dazu, nur Checkboxen anzuklicken, ohne individuelle Besonderheiten zu erfassen.

Problem: Eine reine Checkbox-Dokumentation kann im Haftungsfall unzureichend sein, wenn wichtige Einzelheiten fehlen.

Lösung: Freitextfelder für Abweichungen und Besonderheiten konsequent nutzen.


Die Frage der qualifizierten elektronischen Signatur Das BSG-Urteil betont, dass die handschriftliche Unterschrift durch eine qualifizierte elektronische Signatur ersetzt werden kann. Was bedeutet das für die Pflegedokumentation?


Eine qualifizierte elektronische Signatur:


  • Ist rechtlich der handschriftlichen Unterschrift gleichgestellt

  • Benötigt ein Zertifikat und ein sicheres Signaturerstellungsgerät

  • Ist personengebunden und nicht übertragbar


Die meisten Pflegesoftware-Systeme nutzen jedoch einfache elektronische Signaturen (Login mit Benutzername und Passwort). Das ist grundsätzlich ausreichend, wenn:


  • Das System audit-sicher ist (jede Änderung wird protokolliert)

  • Passwörter individuell und sicher sind

  • Keine Weitergabe von Zugangsdaten erfolgt


MDK-Prüfungen und Dokumentation


Der Medizinische Dienst (MD, ehemals MDK) prüft regelmäßig die Qualität der Pflege – und die Dokumentation ist dabei ein zentrales Bewertungskriterium.


Was prüft der MD konkret?


  • Ist die Pflegeplanung aktuell und individuell?

  • Werden Maßnahmen nachvollziehbar dokumentiert?

  • Gibt es eine Verlaufsdokumentation, die Veränderungen abbildet?

  • Werden Risiken erkannt und entsprechende Maßnahmen durchgeführt?

  • Ist die Dokumentation vollständig und zeitnah?


Folgen mangelhafter Dokumentation:


  • Qualitätsmängel mit finanziellen Konsequenzen

  • Rückforderungen bei nicht nachgewiesenen Leistungen

  • Im Extremfall: Versorgungsvertragsverfahren


Praktische Empfehlungen: Wie sichere ich mich als Pflegekraft ab?


Checkliste für rechtssichere Dokumentation


Täglich:

  • [ ] Alle durchgeführten Maßnahmen am selben Tag dokumentieren

  • [ ] Besondere Vorkommnisse sofort eintragen

  • [ ] Jede Eintragung mit Handzeichen/digitaler Signatur versehen

  • [ ] Bei Abweichungen vom Pflegeplan: Begründung dokumentieren

  • [ ] Bei abgelehnten Maßnahmen: Ablehnung und Aufklärung dokumentieren

Wöchentlich:

  • [ ] Pflegeplanung auf Aktualität prüfen

  • [ ] Risikoeinschätzungen überprüfen (Dekubitus, Sturz, Ernährung etc.)

  • [ ] Entwicklung des Patienten/Bewohners evaluieren

Bei besonderen Vorkommnissen:

  • [ ] Sofortige Dokumentation des Vorfalls

  • [ ] Beschreibung: Was ist passiert? Wann? Welche Sofortmaßnahmen?

  • [ ] Information an Arzt, Leitung, Angehörige dokumentieren

  • [ ] Unfallbericht/Fehlerbericht parallel zur Pflegedokumentation ausfüllen


Was tun bei Zeitdruck?


Der häufigste Einwand gegen sorgfältige Dokumentation lautet: „Dafür habe ich keine Zeit."

Die Wahrheit ist: Gute Dokumentation spart langfristig Zeit, weil:


  • Informationen nicht mündlich mehrfach weitergegeben werden müssen

  • Fehler vermieden werden

  • MDK-Prüfungen ohne Nachforderungen verlaufen

  • Im Schadensfall die rechtliche Absicherung gegeben ist


Pragmatische Lösungen:


  1. Zwischendokumentation nutzen: Kurze Notizen während der Schicht, die später detailliert werden

  2. Strukturierte Vorlagen verwenden: Gut gestaltete Software mit sinnvollen Vorlagen beschleunigt die Dokumentation

  3. Spracherkennung einsetzen: Moderne Pflegesoftware erlaubt teilweise Spracheingaben

  4. Im Team klären: Wer dokumentiert was? Aufgabenteilung vermeidet Doppelarbeit

  5. Personalschlüssel thematisieren: Wenn Dokumentation nicht leistbar ist, liegt ein strukturelles Problem vor – das muss transparent gemacht werden


Die ethische Dimension: Dokumentation als Ausdruck von Professionalität


Pflege ist ein Beziehungsberuf – aber auch ein

dokumentationsabhängiges System


Es ist ein Spannungsfeld, das viele Pflegekräfte kennen: Der Wunsch, bei den Menschen zu sein, mit ihnen zu sprechen, Zuwendung zu geben – und gleichzeitig der Druck, alles zu dokumentieren.

Aber diese beiden Aspekte stehen nicht im Widerspruch. Sie bedingen einander.

Denn professionelle Pflege unterscheidet sich von Laienpflege genau dadurch:


  • Sie ist planvoll (nicht zufällig)

  • Sie ist fachlich begründet (nicht intuitiv)

  • Sie ist evaluierbar (nicht beliebig)

  • Sie ist kommunizierbar (nicht nur im Kopf einer Person)


All das funktioniert nur durch Dokumentation.


Vertrauen entsteht durch Nachvollziehbarkeit


Das BSG-Urteil macht deutlich: Vertrauen entsteht nicht durch gute Absichten, sondern durch nachvollziehbare, persönlich verantwortete Handlungen.


Ein Patient, der seine Pflegedokumentation einsehen möchte (wozu er nach § 630g BGB berechtigt ist), vertraut einer Einrichtung mehr, wenn er sieht:


  • Seine Situation wurde individuell erfasst

  • Maßnahmen wurden geplant und durchgeführt

  • Seine Wünsche und Ablehnungen wurden respektiert und dokumentiert

  • Es gibt eine kontinuierliche Verlaufsdokumentation


Eine lückenhafte, unleserliche oder stereotype Dokumentation dagegen erweckt den Eindruck von Gleichgültigkeit oder Unprofessionalität – selbst wenn die tatsächliche Pflege gut war.


Konsequenzen für Leitungskräfte und Einrichtungen


Organisationsverantwortung und Organisationsverschulden


Das BSG-Urteil zeigt auch: Verantwortung liegt nicht nur bei der einzelnen Pflegekraft, sondern auch bei der Einrichtung.


Wenn eine Einrichtung strukturell keine ausreichende Zeit für Dokumentation zur Verfügung stellt, kann sie sich im Schadensfall nicht auf Versäumnisse einzelner Mitarbeiter berufen. Es liegt dann ein Organisationsverschulden vor.


Pflichten der Einrichtung:


  • Ausreichende Personalausstattung für Pflege und Dokumentation

  • Bereitstellung geeigneter Dokumentationssysteme

  • Regelmäßige Schulungen zur Dokumentation

  • Klare Verfahrensanweisungen (Was wird wie dokumentiert?)

  • Stichprobenartige Qualitätskontrollen

  • Fehlerkultur, die es erlaubt, Probleme anzusprechen


Schulungspflicht und Einarbeitung


Neue Mitarbeiter müssen in das Dokumentationssystem eingearbeitet werden – und zwar nicht nur technisch, sondern auch rechtlich.


Inhalte einer Dokumentationsschulung:


  • Rechtliche Grundlagen der Dokumentationspflicht

  • Praktische Handhabung des Systems

  • Anforderungen an Vollständigkeit, Zeitnähe, Zuordnung

  • Umgang mit Fehlern und Korrekturen

  • Datenschutz und Schweigepflicht

  • Einsichtsrechte von Patienten/Bewohnern

  • Fallbeispiele aus der Rechtsprechung


Ausblick: Digitalisierung als Chance und Herausforderung


KI-gestützte Dokumentation: Fluch oder Segen?


Erste Systeme zur KI-gestützten Pflegedokumentation sind auf dem Markt. Sie versprechen:


  • Automatische Vorschläge für Pflegeplanung

  • Spracherkennung und automatische Strukturierung

  • Erkennung von Risiken und Hinweise auf notwendige Maßnahmen

Aber: Auch hier gilt die Kernbotschaft des BSG-Urteils:


Verantwortung kann nicht delegiert werden – auch nicht an eine KI.


Die Pflegekraft muss:

  • Prüfen, ob die KI-Vorschläge zutreffend sind

  • Die Dokumentation persönlich freigeben

  • Die Verantwortung für Richtigkeit und Vollständigkeit übernehmen


Eine KI kann unterstützen, aber nicht ersetzen. Die persönliche Signatur – digital oder handschriftlich – bleibt unverzichtbar.


Interoperabilität und Datenaustausch


Ein weiteres Zukunftsthema: Pflegedokumentation muss zunehmend über Sektorengrenzen hinweg kommunizieren können:


  • Krankenhaus → Pflegeheim → ambulante Pflege

  • Pflege ↔ Ärzte ↔ Therapeuten

  • Nationale und internationale Datenstandards


Auch hier wird die Frage der persönlichen Zuordnung und Verantwortung zentral bleiben: Wer hat wann was dokumentiert? Und wer haftet bei Übertragungsfehlern?


Fazit: Form ist der sichtbare Ausdruck professioneller Verantwortung


Das Urteil des Bundessozialgerichts vom 27. August 2025 (B 6 KA 9/24 R) zeigt exemplarisch, wie stark Rechtsform und Berufsethik miteinander verwoben sind.


Die Kernbotschaft: Wer im Gesundheitswesen Verantwortung trägt, muss sie auch sichtbar machen – durch persönliche Signatur, saubere Eintragung, zeitnahe Dokumentation.


Für die Pflege bedeutet das konkret:


  1. Dokumentation ist kein notwendiges Übel, sondern professioneller Standard Sie ist der Nachweis, dass Verantwortung wahrgenommen wurde.

  2. Form ist nicht Formalismus, sondern Schutz Eine vollständige, zeitnahe, zuordenbare Dokumentation schützt Pflegekräfte vor ungerechtfertigten Vorwürfen und sichert die Qualität der Versorgung.

  3. Persönliche Verantwortung ist nicht delegierbar Weder an Kollegen noch an Technik. Jede Pflegekraft bleibt verantwortlich für das, was sie tut – und dokumentiert.

  4. Vertrauen entsteht durch Nachvollziehbarkeit Nicht durch Technik, nicht durch gute Absichten, sondern durch transparente, persönlich verantwortete Dokumentation.


In einer Zeit, in der elektronische Systeme, KI und Automatisierung vieles im Gesundheitswesen verändern, bleibt eines unverändert:


Die persönliche Verantwortung für das, was wir tun – und die Pflicht, diese Verantwortung sichtbar zu machen.


Denn wie das BSG-Urteil zeigt: Ein Stempel kann eine Unterschrift nicht ersetzen. Und keine Technik kann persönliche Verantwortung ersetzen.



Zum Weiterlesen und Vertiefen:

  • Bundessozialgericht, Urteil vom 27.08.2025, Az. B 6 KA 9/24 R

  • § 630f BGB (Dokumentationspflicht)

  • § 113 SGB XI (Qualitätsvereinbarungen in der Pflege)

  • Expertenstandards des DNQP zur Pflegedokumentation

  • Leitfaden „Strukturmodell zur Entbürokratisierung der Pflegedokumentation"

  • Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) – Besonderheiten im Gesundheitswesen


Hinweis: Dieser Text dient der Information und stellt keine Rechtsberatung dar. Bei konkreten Rechtsfragen wenden Sie sich bitte an spezialisierte Fachanwälte für Medizinrecht.

 
 
 

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