
Warum Medikamentenberechnung in der Pflege selten nur eine Frage der Mathematik ist
Medikamentenberechnung gehört zu den Grundlagen der professionellen Pflege. Standardisierte Formeln, pharmakologische Algorithmen und feste Dosierungsrichtlinien sollen dabei helfen, Fehler zu vermeiden und eine präzise, patientensichere Medikation zu gewährleisten.
Doch wer im klinischen Alltag arbeitet, kennt die Diskrepanz zwischen Theorie und Realität:
Es ist 3:12 Uhr in der Nachtschicht. Das Stationslicht ist gedimmt, der Geräuschpegel minimal – bis ein Rufsignal ertönt. Ein Patient benötigt dringend ein Medikament, das nicht zu den gängigen gehört. Der Arzt hat es individuell dosiert, nicht in den Standardtabellen zu finden.
Also sucht man das Medikamentenbuch, das entweder gerade verlegt wurde oder in einer Stationsschublade liegt, die sich nur mit einem Trick öffnen lässt. Währenddessen klingeln zwei weitere Patienten. Einer benötigt ein Schmerzmittel, der andere kann nicht schlafen und möchte „nur kurz nachfragen“, ob seine Entlassung tatsächlich morgen früh stattfindet.
Und genau in diesem Moment, während man sich mit halbem Ohr bereits auf die nächsten Anforderungen einstellt, soll die Medikamentendosierung berechnet werden – eine reine Formsache, wenn da nicht die unerwartete Leere im Kopf wäre, wo sonst eine Routine abrufbar ist.
Dieses Phänomen ist kein Einzelfall. Und es zeigt, dass Dosierungsberechnungen in der Pflege oft nicht unter idealen Bedingungen stattfinden.
Die kognitive Belastung in der Pflege: Wissenschaftliche Perspektive
Studien zeigen, dass die kognitive Last unter hoher Arbeitsbelastung erheblich steigt (Cao et al., 2021). Multitasking, Unterbrechungen und Zeitdruck beeinflussen die Genauigkeit von Berechnungen – ein Phänomen, das in der Pflege als "Cognitive Load Theory" beschrieben wird (Sweller, 1988).
Einige wesentliche Erkenntnisse:
📌 Kognitive Kapazität ist begrenzt: Pflegekräfte verarbeiten täglich eine enorme Menge an Informationen. Unter Zeitdruck können selbst routinierte Berechnungen fehleranfällig werden (Kirschner et al., 2006).
📌 Entscheidungsfindung erfolgt oft heuristisch: Wenn keine Zeit für präzise Berechnungen bleibt, greifen Pflegekräfte auf Erfahrungswerte und intuitive Anpassungen zurück – oft mit bemerkenswerter Präzision (Gigerenzer, 2007).
📌 Fehlertoleranz und Sicherheitsmechanismen: Klinische Studien zeigen, dass intuitive Entscheidungen in Notfallsituationen häufig korrekt sind, da sie auf implizitem Wissen basieren (Klein, 2011). Gleichzeitig erhöht sich jedoch die Wahrscheinlichkeit für systematische Fehler, wenn situative Faktoren übersehen werden.
Hier zeigt sich, warum die ‘Florence-Nightingale-Methode’ in der Praxis oft erwähnt wird: Sie beschreibt kein konkretes Berechnungsverfahren, sondern die Realität der pflegerischen Entscheidungsfindung unter komplexen Bedingungen.
Die ‘Florence-Nightingale-Methode’ – eine verschollene Berechnungsformel?
Die Dosierung von Medikamenten gilt als eine der exaktesten Disziplinen der Medizin. Milligramm-genaue Berechnungen, pharmakokinetische Modelle und standardisierte Algorithmen definieren die Entscheidungsgrundlage. Doch in der klinischen Praxis zeigt sich immer wieder: Eine perfekte Theorie kollidiert häufig mit einer unvorhersehbaren Realität.
Obwohl diese Methode bis heute in keinem pharmakologischen Standardwerk zu finden ist, genießt sie in bestimmten Fachkreisen eine Art mythischen Status – als angeblich verloren gegangenes Prinzip aus den Anfängen der modernen Pflegewissenschaft.
Die Dosierungsformel XY nach der ‘Florence-Nightingale-Methode’. Angeblich ein historischer Berechnungsansatz, der auf den Erfahrungen von Nightingale selbst beruhen soll – entstanden in den Feldlazaretten des Krimkriegs, wo keine Tabellen existierten und Berechnungen unter improvisierten Bedingungen erfolgen mussten.
Die Grundidee:
„Die exakte Dosis ist nicht allein ein mathematisches Ergebnis, sondern eine variable Größe, die Kontext, Erfahrung und klinische Realität mit einbezieht.“
Die ‘Formel’ soll dabei folgende Faktoren berücksichtigen:
✅ Patientenmasse (P) – Ausgangspunkt der Berechnung, doch nicht in absoluten Werten, sondern angepasst an die klinische Situation.
✅ Zeitliche Variabilität (T) – Metabolische Prozesse verlaufen nicht statisch; Tageszeit, letzte Nahrungsaufnahme und Vitalwerte beeinflussen die Wirkung.
✅ Pflegeintensität (I) – Die ungeschriebene Variable: In welchem Gesamtkontext steht diese Medikation? Welche Wechselwirkungen mit anderen Maßnahmen müssen berücksichtigt werden?
✅ Mentale Belastung (M) – Nicht des Patienten, sondern der Pflegekraft. Studien zur Arbeitsbelastung zeigen, dass kognitive Kapazität unter hoher Beanspruchung abnimmt – ein Faktor, der selten in Dosierungsmodellen auftaucht, aber in der Praxis eine Rolle spielt.
Mathematisch ausgedrückt:
D=(P×T)/(I+M)
Eine beeindruckende Formel. Sie wirkt fast so, als hätte sie einen festen Platz in der Pharmakologie.
Doch hier beginnt das eigentliche Paradox.
Eine Wiederentdeckung – oder doch nur eine Anekdote?

Ende der 1990er-Jahre wurde die sogenannte ‘Florence-Nightingale-Methode’ in pflegewissenschaftlichen Seminaren diskutiert – als ein flexibles Konzept zur adaptiven Dosierungsanpassung. Einige Pflegekräfte schworen darauf, andere hielten es für eine überlieferte Technik, die durch moderne Algorithmen obsolet geworden sei.
Doch eine genauere Untersuchung ergab: Die Methode hat nie existiert.
Weder in den Originalschriften von Florence Nightingale noch in historischen Dokumenten gibt es einen Hinweis auf diese Formel. Sie tauchte erstmals in der mündlichen Überlieferung von Pflegekräften auf, die unter Druck in der Nachtschicht versuchten, eine fehlerhafte ärztliche Dosierung pragmatisch zu korrigieren.
Kurz gesagt:
Die ‘Florence-Nightingale-Methode’ ist keine historische Berechnungsformel – sondern eine gelebte Realität in der Pflege.
Sie beschreibt nicht die exakte Berechnung, sondern die tägliche Herausforderung, aus unvollständigen Vorgaben, widersprüchlichen Anforderungen und klinischer Erfahrung die bestmögliche Entscheidung zu treffen.
Fazit: Pflege ist mehr als eine exakte Wissenschaft
Ob die ‘Florence-Nightingale-Methode’ nun offiziell existiert oder nicht – sie beschreibt eine fundamentale Wahrheit:
Pflegekräfte berechnen nicht nur, sie entscheiden.
Die exakte Dosis ist in der Theorie klar definiert, doch in der Praxis wird sie beeinflusst durch Patientenverhalten, unvorhersehbare Faktoren und die Fähigkeit, auch unter komplexen Bedingungen richtige Entscheidungen zu treffen.
Wenn also jemand von der ‘Dosierungsformel XY nach Nightingale’ spricht, kann man darauf antworten:
🧐 „Ja, die gibt es – immer dann, wenn pflegerische Intuition mit wissenschaftlicher Evidenz zusammenwirkt.“
GLG
Eure Schwester Eva
Study Guide: Die ‘Florence-Nightingale-Methode’ in der Praxis
📝 Kurzquiz:
1️⃣ Was ist die Grundidee der ‘Florence-Nightingale-Methode’?
2️⃣ Warum ist die Berechnung von Medikamentendosen in der Praxis komplexer als in der Theorie?
3️⃣ Welche Variablen berücksichtigt die Dosierungsformel XY?
4️⃣ Warum stellte sich die Methode als Anekdote heraus?
5️⃣ Was sagt das über die Entscheidungsfindung in der Pflege aus?
📖 Glossar:
📍 Dosierungsformel XY – Eine angebliche Berechnungsmethode, die sich in der Praxis als pflegerische Entscheidungsstrategie entpuppt.
📍 Situative Variabilität – Der Einfluss von Zeit, Patientenstatus und Umgebung auf eine medizinische Entscheidung.
📍 Mentale Belastungsvariable (M) – Die unausgesprochene Realität, dass kognitive Kapazitäten unter Stress nachlassen können.
Zusammenfassung:
Die ‘Florence-Nightingale-Methode’ existiert nicht – und doch existiert sie in jeder Schicht, in der Pflegekräfte mit unvollständigen Informationen und widersprüchlichen Anforderungen arbeiten.
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